Systemrelevanz und Resilienz
Wenn für die Bereiche Politik und Forschung jährlich ihr „Wort des Jahres“ gewählt würde, würde in diesem Jahr die Entscheidung zwischen: Systemrelevanz und Resilienz getroffen werden. Dabei gehören beide Begriffe ja (irgendwie) zusammen. Denn das, was für unsere Gesellschaft in besonderer Weise relevant ist, sollte auch in Krisen widerstandsfähig sein.
In der gegenwärtigen Corona- Pandemie konnten wir zunächst über die sogenannte Systemrelevanz in unserer demokratischen Gesellschaft viel dazu lernen. So durften beispielsweise nicht alle, aber Kinder von Eltern mit systemrelevanten Berufen ab einem bestimmten Zeitpunkt in den Kindergarten gehen, weil die Arbeit ihrer Eltern für uns unabdingbar ist. Uns wurde auch klar, dass viele gesellschaftlich zu wenig anerkannte und schlecht bezahlte Berufe eigentlich lebensnotwendig sind: von den Krankenschwestern, den Kassiererinnen im Supermarkt bis hin zu den Transportarbeitern, um nur wenige zu nennen.
Und, als dann der, in der Krise stärker gefragte, Staat als „Unternehmer“ auftrat und viel in den Erhalt und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft investierte, wurde uns endlich klar, dass in unserer Demokratie jede Person, fast jeder Beruf und fast jedes Unternehmen mehr oder weniger systemrelevant ist und aktuell unterstützt werden soll. Für fast alle gab es finanzielle Unterstützung (außer – sie verzeihen mir den Scherz – Taschengeld für Taschendiebe).
Gut so!! Für uns Bürger ist das ein beglückendes Resultat, für die Politik nur bedingt, für die Forschung ist das freilich unbefriedigend.
Vielleicht kommen wir mit einem Gedankenexperiment einen Schritt weiter, wenn wir die Antwort nach den Prioritäten bei der Systemrelevanz in unserer demokratischen Gesellschaft bei denen suchen, die uns infrage stellen: den Demokratiegegnern.
Jeder von uns Erwachsenen hat traurigerweise - zum Glück aber in der Regel nur im TV - schon Militärputsche erlebt: sei es in Griechenland oder der Türkei, um nur wenige zu nennen. Die drei ersten Dinge, die dabei unter militärische Kontrolle gebracht wurden, waren: 1. Flughäfen, Brücken und Straßen = die Verkehrsinfrastruktur 2. Die öffentlichen Medien 3. das Parlament (sowie der Regierungssitz und dann nach und nach alle demokratischen Institutionen).
Wenn wir nach der Systemrelevanz in unserer demokratischen Gesellschaft fragen, müssen wir also zunächst nach der Handlungsfähigkeit unseres Staates fragen, denn der ist letztinstanzlich für die Gemeinwohlsicherung von uns allen verantwortlich. Er braucht dazu krisenfeste und funktionierende demokratische Entscheidungsgremien, den verlässlichen Zugang zu Kommunikationsmedien und widerstandsfähige Verkehrsträger inklusive deren Infrastruktur. Das ist die basale Ebene, die wir als systemrelevant erkennen und die unabdingbar resilient gestaltet sein muss. (Danach folgen schrittweise weitere Bereiche: Gesundheit, Bildung, Wirtschaft, Finanzen usw.)
Inzwischen sprechen Gesellschaftswissenschaftler davon, dass wir in einer Art Dauerkrise sind und bringen das in einen Zusammenhang mit unseren immer komplexer werdenden Gesellschaften und ihren sich beschleunigenden Veränderungen. Ohne apokalyptische Fantasien bedienen zu wollen, können wir zumindest feststellen, dass die „Mutter aller Krisen“ die Klimakrise inzwischen von der globalen Corona-Pandemie überlagert wird, die wahrscheinlich eine Wirtschaftskrise und möglicherweise eine Finanzkrise nach sich ziehen wird. (Hoffentlich bleiben wir von einer Spaltung der Gesellschaft -wie sie in den USA zu beobachten ist - und einer zu schnellen Mutation des Coronavirus verschont und können noch rechtzeitig drastische Folgen der Klimakrise abwenden.)
Der Staat als „Unternehmer“ wird wohl in der nächsten Zeit viel in eine umfassende Resilienz-Forschung investieren müssen. Und diese Forschung wird interdisziplinär sein. Um nur einige laienhafte Beispiele zu nennen: Mediziner könnten ihr Wissen von Profilaxe, dem Funktionieren der Immunsysteme und Entscheidungsprozessen bei Notoperationen einbringen, IT-Spezialisten von Strategien für die Datensicherheit und Biologen und Chemiker von regenerativen Naturprozessen usw. Auch das strukturelle Wissen von Techniker, Managern, Ökonomen, Soziologen und Naturwissenschaftlern wird gefragt sein. Zunächst gilt es die wichtigsten systemischen Fragestellungen zu erarbeiten.
Um nicht zu sehr zu dilettieren, werde ich mich in den kommenden Aufsätzen mit Fragen der Resilienz der Verkehrssysteme auseinander setzen. Der Aufsatz: „Metropolen brauchen Flughafensysteme“ war der Anfang in dieser Reihe.
Von: Ulrich Stockmann, 14.06.2020